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Unser Verstand hat ein natürliches Bedürfnis, sich zu identifizieren – sei es mit unseren Stimmungen, Gedanken, Ideologien oder Weltanschauungen. Manche Identifikationen sind flüchtig und schnell aufgelöst (z.B. „Ich bin heute einfach ein wenig müde“), während andere tief verwurzelt und fast unerschütterlich scheinen (wie politische oder religiöse Überzeugungen). Je stärker wir uns jedoch mit etwas identifizieren, desto mehr verschwindet unser Handlungsspielraum, desto massiver stehen wir dafür ein, desto eher kämpfen wir unerbitterlich dafür oder leiden darunter – desto mehr verschwindet unsere innere Freiheit.
Warum Identifikation uns einschränkt
Stell dir vor, jemand kritisiert dich hart. Wenn du stark mit deiner Persönlichkeit identifiziert bist, reagierst du wahrscheinlich impulsiv – sei es mit Wut oder indem du dich gekränkt zurückziehst. Doch was, wenn du diese Reaktion aus einer beobachtenden Distanz wahrnehmen könntest – mit anderen Worten: wenn du die starke Identifizierung lockern könntest? Diese bewusste Wahrnehmung schafft Raum für eine freie, bewusste Reaktion statt impulsiven Handelns.
Vielleicht taucht nun in dir Protest auf: „Wenn jemand unfair mit mir umgeht, ist es nur gerecht und gesund, wenn ich wütend darauf reagiere!“
Der Protest ist berechtigt. Jedoch entspringt er wieder einer Identifikation, wahrscheinlich einem verletzten und gekränkten Anteil, der viel Wert legt auf Gerechtigkeit.
Es geht jedoch nicht darum, nur sanft wie ein Lämmlein zu sein. Eine wütende Reaktion kann manchmal angebracht sein.
Es geht viel mehr darum, frei entscheiden zu können, wie ich reagieren möchte.
Die Reaktionen beziehen sich jedoch nicht nur darauf, was von außen auf uns zukommt, sondern auch von innen:
Angenommen, du wachst morgens mit richtig mieser Stimmung auf und musst zur Arbeit gehen. Wenn du stark identifiziert bist mit dieser Stimmung, wirst du dich elend fühlen und die Welt genau aus dieser Perspektive sehen. Du wirst leiden, vielleicht selbstmitleidig sein, vielleicht genervt und die schlechte Stimmung ausagieren.
Stell dir vor, du bist jedoch in der Lage, innerlich einen kleinen Schritt zurückzutreten, die Identifikation mit dem Zustand etwas zu lösen und eine interessierte, vielleicht sogar neugierige Beobachterperspektive einzunehmen (z.B. „oh man, verdammt miese Stimmung heute. Aber wie genau erlebe ich denn miese Stimmung? Wie zeigt sie sich in meinem Körper, wie in Gedanken und was genau für Gefühle spielen dabei eine Rolle?“)
Falls dieser Schritt möglich ist, wird eine Veränderung stattfinden: Du wirst nicht mehr richtig mies drauf sein, sondern bewusst mitbekommen, dass da miese Stimmung in dir ist – und dies macht einen gewaltigen Unterschied.
Du wirst der schwierigen Stimmung und deren Handlungsdruck ins Agieren nicht mehr so stark ausgeliefert sein, sondern mitbekommen, was passiert und frei entscheiden können, wie du damit umgehst und wie du dir vielleicht etwas gutes tun kannst. Es entsteht innerer Abstand und dadurch ein Stück weit Freiheit.
"Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit."
Viktor Frankl Tweet
Die Magie der Achtsamkeit – innere Freiheit
Achtsamkeit hilft uns, Situationen und uns selbst aus einer wohlwollenden und unparteiischen Beobachterperspektive wahrzunehmen. Anstatt sofort in unsere gewohnten Reaktionsmuster zu fallen, erkennen wir, was tatsächlich in uns und um uns herum passiert. So können wir frei entscheiden, wie wir mit Impulsen und Stimmungen umgehen.
Wir könnten zum Beispiel erkennen, dass wir durch die Kritik verletzt und gekränkt wurden und hätten dadurch etwas Abstand dazu gewonnen.
Daraufhin haben wir viel eher verschiedene Optionen zur Verfügung. Zum Beispiel könnten wir uns damit zeigen, dass uns die Kritik verletzt hat und darüber sprechen, statt daraus zu agieren. Oder wir können auch entscheiden, die Kritik wütend zurückzuweisen, diesmal jedoch aus einer bewussten Entscheidung und innerer Freiheit heraus.
Achtsamkeitsübungen für den Alltag
Gedanken-Scanner: Setze dich für 5 Minuten in Stille hin und benenne jeden Gedanken, der aufkommt. Es geht nicht darum, Gedanken zu kontrollieren, sondern sie einfach zu beobachten und Abstand dazu zu bekommen. Welche Themen wiederholen sich? Was lenkt dich ab? Wenn du den Eindruck hast, dass es in dir dafür gerade zu chaotisch ist, kann Emotionsregulation ein nützliches Tool sein.
Gefühls-Check-in:
• Stelle dir mehrmals täglich den Timer und halte für einen kurzen Moment inne.
• Welche Stimmung und welche Gefühle sind gerade präsent?
• Wo und wie spürst du sie im Körper?
• Nimm sie bewusst wahr, ohne sie zu bewerten.
• Spüre dabei genau hin und versuche vor allem die Bereiche der Gefühle zu erforschen, die nicht so offensichtlich sind und für die du vielleicht gar keine Worte findest.
• Was passiert mit deinen Gefühlen, wenn du dich ihnen ganz bewusst und neugierig zuwendest?Morgenritual: Wenn du morgens aufwachst und dich mies fühlst, schließe für eine Minute die Augen und atme tief ein. Versuche zu akzeptieren, dass da miese Stimmung ist. Falls sich in dir Protest regt, versuche, dich auch diesem Teil in dir interessiert zuzuwenden. Frage dich: „Was kann ich diesem mies gelaunten Teil in mir heute Gutes tun?“
Durch diese Übungen gewinnst du die Fähigkeit, dich bewusst von deinen Identifikationen zu lösen. So wird aus einem automatischen Reaktionsmuster ein freier Handlungsspielraum – aus dem Erleben von den Umständen ausgeliefert sein der Eindruck von Handlungsmacht. Du wirst weniger von äußeren Umständen bestimmt und lernst, dich selbst besser zu steuern. Es wartet die Erkenntnis, dass du die Freiheit hast, dich nicht mit allem zu identifizieren, was in dir und um dich herum geschieht.
An manchen Stellen sind unsere Identifikationen mit inneren Anteilen sehr stark und es funktioniert nicht, innerlich davon Abstand zu bekommen.
Hier kann es nützlich sein, ein Gegenüber zu haben, welches diesen Prozess begleitet.
Falls du mit Unterstützung arbeiten möchtest, melde dich gerne. Wir können gemeinsam herausfinden, was für dich passend ist.