Und dann kommt er.
Ein Gedanke, erst leise, dann lauter: „Ich könnte ja etwas Sinnvolles hören. Als Vorbereitung für die Meditation.“ Aus dieser Idee wird fast augenblicklich ein starkes, körperliches Bedürfnis: der Griff zum Handy.
Ich beobachte diesen Drang. Er ist überraschend stark. Er fühlt sich nicht wie Zwang an, sondern wie ein Versprechen. Ein Versprechen nach noch mehr Gemütlichkeit, nach tieferer Zufriedenheit, nach einer Abrundung dieses perfekten Moments.
In diesem Moment wird mir klar, wie tief automatisiert dieser Impuls ist.
Und ich frage mich: Was ist so unerträglich daran, einfach nur hier zu sitzen? Mit dem, was ist? Der Regen, der Kaffee, die Wärme, meine Gedanken. Warum fühlt sich das „Nichts-Tun“ so unvollständig an?
"Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen."
– Blaise Pascal Tweet
Sobald ich bewusst entscheide, nicht nach dem Handy zu greifen, passiert etwas Faszinierendes: Es wird unruhig in mir. Mein Geist fängt an zu suchen. Er sucht verzweifelt nach etwas, an dem er sich festhalten kann, woran er sich orientieren kann.
Dieses Gefühl, fast wie im luftleeren Raum zu hängen, kann schnell in Stress umschlagen.
Wenn du das kennst, erlebst du gerade dein Default Mode Network (DMN) in Aktion.
In der Neurowissenschaft ist das DMN (Standardmodus-Netzwerk) ein großes Gehirnnetzwerk, das immer dann aktiv wird, wenn wir nicht auf eine spezifische, externe Aufgabe fokussiert sind. Es ist unser mentaler Autopilot.
Was macht das DMN? Es ist zuständig für Selbstreflexion („Was denken die anderen über mich?“), das Schwelgen in Erinnerungen („Damals, das war schön…“) und das Planen der Zukunft („Was muss ich morgen noch erledigen?“).
Das Problem? Wenn wir nicht gelernt haben, diesen Autopiloten zu steuern, neigt er dazu, in negative Schleifen abzudriften. Das DMN ist stark mit Rumination (Grübeln) und, wie Studien zeigen, auch mit Unzufriedenheit und sogar depressiven Verstimmungen verknüpft.
Dieser Moment der Stille? Das ist die Hauptsendezeit für das DMN. Und wenn dieses „Kreisen um sich selbst“ unangenehm wird – was es oft wird – schreit unser System nach einem Ausweg.
„Die Fähigkeit, eine abgelenkte Aufmerksamkeit immer wieder freiwillig zurückzubringen, ist die Wurzel von Urteil, Charakter und Willen.“
– William James Tweet
Hier kommt das Smartphone ins Spiel. Es ist der perfekteste „DMN-Abschalter“, den wir je erfunden haben.
Der Griff zum Handy ist nicht nur eine schlechte Angewohnheit. Aus psychologischer Sicht ist er eine erlernte Strategie zur experienziellen Vermeidung (ein Kernkonzept aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie, ACT).
Wir versuchen nicht unbedingt, etwas Tolles zu erreichen (mehr Gemütlichkeit), sondern wir versuchen, einem subtilen, inneren Unbehagen zu entkommen:
Das innere Dilemma: Unser Geist im DMN-Modus fühlt sich haltlos und unruhig an. Er hängt „im luftleeren Raum“.
Die erlernte Lösung: Das Handy bietet sofortige, externe Orientierung. Einen Anker.
Die Belohnung: Der Input (ein Artikel, ein Video, Social Media) gibt unserem Geist sofort eine Aufgabe. Das DMN wird heruntergefahren, der unruhige „Leerlauf“ stoppt. Die innere Anspannung löst sich. Puh, gerettet.
Das Problem ist nur: Wir beruhigen unseren Geist, indem wir ihn mit externen Informationen füttern, die oft nichts mit uns selbst zu tun haben.
"Der moderne Mensch hat die Fähigkeit verloren, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Er flieht vor sich selbst in die Zerstreuung."
– Erich Fromm Tweet
Was passiert, wenn wir diesen Mechanismus – Unruhe -> Handy -> Beruhigung – tausendfach wiederholen?
Wir verlernen, in uns selbst zu ruhen.
Wir trainieren unser Gehirn (Danke, Neuroplastizität!), dass Ruhe und Zufriedenheit nur durch externen Konsum zu finden sind. Wir werden abhängig von Dingen im Außen, um uns für einen Moment innerlich stabil zu fühlen.
Der ironische Begriff „Brainrot“ (Gehirn-Fäule) für sinnlosen Online-Content trifft es schmerzhaft gut. Es fühlt sich ungesund an, den Geist mit Müll-Informationen zu beruhigen, nur damit er still ist. Wir verlieren die Fähigkeit, das „Nichts“ auszuhalten, das eigentlich der Nährboden für Kreativität, tiefe Selbsterkenntnis und echten inneren Frieden ist.
"Wir haben eine Technologie entwickelt, die uns davor schützt, uns jemals mit unseren eigenen Gedanken allein auseinandersetzen zu müssen."
– Sherry Turkle Tweet
Das bringt mich zur Kernfrage: Braucht mein Geist Führung?
Die Antwort ist ein klares: Ja.
Aber – und das ist das Entscheidende – es geht um die Art der Führung. Der Geist will einen Anker. Die Frage der Selbstführung ist: Wählst du deinen Anker bewusst oder lässt du ihn dir von einem Algorithmus zuweisen?
Spirituelle Traditionen, die sich seit Jahrtausenden mit Meditation beschäftigen, wussten das längst. Sie bieten genau das, wonach der unruhige Geist sucht, nur eben auf eine gesunde, interne Weise.
Der Fokus auf den Atem: Das ist nichts anderes als eine bewusste Aufgabe für den Geist. Statt ziellos im DMN zu kreisen, gibst du ihm einen internen Anker.
Der Fokus auf den Körper (Bodyscan): Dasselbe. Der Geist bekommt eine klare Orientierung.
Es geht in der Meditation oft nicht darum, im „luftleeren Raum“ zu entspannen – das können die wenigsten von uns. Es geht darum, dem Geist einen internen Anker zu geben, statt ihn den nächstbesten externen greifen zu lassen.
"Nichts ist so widerspenstig wie ein ungeschulter Geist, und nichts ist so fügsam wie ein geschulter Geist."
– aus dem Dhammapada Tweet
Dieser Sonntagmorgen hat mir wieder gezeigt, wie wichtig bewusste Selbstführung im digitalen Zeitalter ist.
Beobachte den Impuls: Wenn du das nächste Mal den Drang verspürst, in einer stillen Minute zum Handy zu greifen, erkenne ihn als das, was er ist: Der Versuch deines DMN, dem „unruhigen Leerlauf“ zu entkommen.
Unterscheide deine Anker: Suchst du gerade einen externen Anker (Ablenkung durch Input) oder einen internen Anker (Kontakt zu dir selbst)?
Trainiere das „Sein“: Die Fähigkeit, mit sich selbst zu sein, ohne sofort in die Vermeidung zu gehen, ist ein Muskel. Erlaube dir, die Unruhe für 30 Sekunden einfach nur zu spüren. Atme hinein. Du musst nicht sofort handeln. Das ist der erste Schritt, um die innere Abhängigkeit zu lösen und die Ruhe wieder in dir selbst zu finden.
Es ist nicht das Handy, das das Problem ist. Es ist der automatisierte Griff danach, um uns selbst nicht spüren zu müssen.
Die wahre Gemütlichkeit entsteht nicht durch den perfekten Input von außen, sondern wenn wir es schaffen, mit dem, was in uns ist, Frieden zu schließen.

Ich bin Oliver, Gestalttherapeut mit Herz für Tiefe, Psychotherapie und Verbundenheit. In diesem Blog teile ich Impulse für Menschen, die sich selbst wieder näher kommen wollen.
und du dir Begleitung auf deinem Weg wünschst – schau gerne auf der Therapieseite vorbei.