6. Blogbeitrag Selbstzuwendung

Ablenkung, Projektion, Konsum – Die teure Flucht vor uns selbst

Ablenkung, Projektion, Konsum

Die teure Flucht vor uns selbst

Ganz alltäglich

Kennst du das auch: Du bist nicht so gut drauf, fühlst dich so lala, schleppst dich durch deinen Alltag. Erstmal einen Kaffee trinken. Wahrscheinlich liegts am Wetter! Dieser ständige Umschwung macht mich fertig. Und geschlafen hab ich auch nicht so gut. Außerdem wars gestern echt stressig in der Arbeit. Kaffee ist fertig. Jetzt erstmal gemütlich ein bisschen Neuigkeiten checken am Handy. Oh man, das macht mich fertig, was da in der Welt passiert! Vielleicht baut mich ein kurzes Prank-Video wieder auf. Schon ganz witzig. Aber jetzt muss ich los. Junge, haben gerade alle beschlossen, mit ihren Autos in den Tag starten zu müssen?? Kannst du nicht schneller fahren? Kein Wunder, dass ich schlecht gelaunt bin. Heute Abend hab ich mir echt verdient, einfach nur auf der Couch abzuhängen und was zu glotzen! Achja, ich wollte ja noch schauen, was es mittlerweile für Smart-TVs gibt. Aber jetzt erstmal noch einen Kaffee…

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„Wer nach außen schaut, träumt; wer nach innen blickt, erwacht.“

Die subtile Kunst, sich vor sich selbst zu verstecken

Kennst du auch das Phänomen, dass wir manchmal regelrecht getrieben sind, unseren Fokus nach außen zu richten:

auf Erklärungen für unsere Befindlichkeiten, auf Konsum, auf neue Anschaffungen, auf Erfolg oder Anerkennung, auf Spaß und Ablenkung, auf erleichternde spirituelle Sichtweisen auf uns und das Leben.

Oberflächlich betrachtet scheint das völlig normal und logisch – schließlich versprechen diese Dinge ja Klärung, Befriedigung, Erleichterung, Erfüllung oder Glück.

Doch häufig steckt etwas Tieferes dahinter, etwas, das uns meist nicht bewusst ist. Wir spüren im Inneren unangenehme Dinge – nicht wirklich bewusst, oft eher als unangenehme Stimmung:

Ein Selbstwertdefizit vielleicht, alte, unaufgelöste Trauer, Langeweile oder Leere, nicht ausgedrückte Wut, Angst oder unerfüllte Bedürfnisse. Diese inneren Spannungen sind subtil, aber belastend. Weil es oft schmerzhaft oder schwierig erscheint, direkt hinzuspüren, lenken wir den Blick lieber nach außen.

Wir projizieren unsere inneren Schwierigkeiten auf äußere Situationen oder Menschen, bekämpfen dort vermeintliche Sündenböcke oder versuchen, unsere inneren Defizite mit äußeren Lösungen zu kompensieren.

Das Ergebnis: Wir finden keine anhaltende Befriedigung, sondern erleben bestenfalls eine kurzfristige Linderung. Mehr noch – wir entfernen uns von uns selbst. Kaum jemand kommt dabei auf die Idee, sich dem eigentlichen Unwohlsein im Inneren zuzuwenden.

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Abgelehnte Gefühle, verlorene Lebendigkeit: Was wir durch Verdrängung wirklich verlieren

Vielleicht frägst du dich jetzt – warum sollte ich mich mit den unangenehmen Gefühlen in mir auseinandersetzen? Ich bin doch kein Masochist! Im Leben geht es doch darum glücklich zu sein!
Ich möchte dir eine andere Sichtweise vorschlagen:

Alles in deinem Inneren gehört zu dir, auch die höchst unangenehmen Seiten. Solange du vor diesen flüchtest, dich ablenkst, sie leugnest, spaltest du einen großen Teil von dir selbst ab. Das Ergebnis? Die abgespaltenen Seiten in dir führen ein Schattendasein, kommen an verschiedenen Ecken unbewusst zum Vorschein, lassen dich ständig subtil fühlen, dass du dich selbst ablehnst. Und der vielleicht größte Leidensaspekt ist, dass du nie ganz bei dir und da sein wirst und mindestens subtil ein Gefühl von Leere oder Sinnlosigkeit fühlst. 

Ich bin überzeugt: Wenn wir uns auch unseren unangenehmen Seiten ehrlich und mit Mitgefühl zuwenden, übernehmen sie nicht die Kontrolle über uns. Im Gegenteil – wir erkennen sie bewusster und können freier entscheiden, wie wir mit ihnen umgehen. In diesem Prozess, uns als Ganzes anzunehmen, liegt eine tiefe Zufriedenheit und echte Liebe zu uns selbst. 

Aber warum lehnen wir eigentlich Seiten von uns ab?

„Radikale Akzeptanz ist die Bereitschaft, uns selbst und unser Leben so zu erfahren, wie es ist. Ein Moment radikaler Akzeptanz ist ein Moment wirklicher Freiheit.“

Warum lehnen wir eigene Seiten von uns selbst ab?

1. Schutz vor emotionaler Überforderung

Die direkte Begegnung mit unseren unangenehmen Gefühlen kann überwältigend wirken. Insbesondere dann, wenn wir in der Kindheit nicht gelernt haben, starke Gefühle sicher zu halten und zu regulieren. Wir entwickeln dann automatische Abwehrmechanismen wie Verdrängung oder Projektion.

Verdrängung ist das unbewusste Wegschieben von unangenehmen Gefühlen und Erinnerungen aus dem bewussten Erleben.

Projektion ist das Zuschreiben eigener innerer Schwierigkeiten oder Gefühle auf andere Menschen oder Situationen im Außen. Wir schützen uns damit vor innerem Schmerz, allerdings auf Kosten von Beziehung – zu uns selbst und unseren Mitmenschen.

Die gute Nachricht: Starke Gefühle sicher zu halten und zu regulieren kann gelernt werden!

2. Alte Verletzungen und unerfüllte Bedürfnisse

Viele von uns tragen aus ihrer Entwicklungsgeschichte unerfüllte Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Sicherheit oder emotionaler Nähe in sich. Diese Bedürfnisse schmerzen subtil und wirken unbewusst weiter. Sie treiben uns an, im Außen nach Erfüllung oder Kompensation zu suchen. Doch egal, wie viel wir von außen bekommen – es kann nie die eigentlichen inneren Wunden schließen.

Diese alten Verletzungen wollen nicht kompensiert und weggemacht werden. Sie wollen gesehen, gefühlt, anerkannt und liebevoll umarmt werden. In tiefer und wertschätzender Annahme liegt die Heilung. Und dafür braucht es emotionale Stärke (siehe Punkt 1.).

3. Kulturelle Prägung und gesellschaftliche Normen

Unsere Kultur vermittelt uns permanent, dass äußere Erfolge, Konsum und Anerkennung Glück bringen. Inneres Erleben, Selbstkontakt und das Anerkennen eigener Schwäche oder Verletzlichkeit passen nicht gut ins Bild. Deshalb bleiben wir meist an der Oberfläche, anstatt uns den tiefen inneren Themen zuzuwenden.

Man könnte fast sagen, unsere Gesellschaft als kollektives „Wesen“ ist zumindest zum Teil emotional unreif. Unangenehme Gefühle und Menschen, die darunter leiden werden gemieden, unterdrückt und möglichst verbannt. Gefeiert wird Spaß, Erfolg und Stärke um jeden Preis.

Wir haben noch nicht begriffen, dass eine Spaltung in der Gesellschaft, die Unterdrückung bestimmter Gruppen, die Verleugnung und Abwehr von Verletzlichkeit letztendlich zu zwanghaften Kompensationen in Form von Konsum, Leistungsdruck und Sinnlosigkeit in allen teilen der Gesellschaft führt. 

4. Neurobiologische Grundlagen

Unsere Gehirne sind evolutionsbiologisch darauf programmiert, Schmerz und unangenehme Gefühle möglichst zu vermeiden. Das limbische System reagiert schnell und automatisiert, indem es uns Richtung äußerer Ablenkungen oder Lösungen lenkt – eine kurzfristige Strategie, um Spannungen zu regulieren.

Wir haben uns jedoch weiterentwickelt. Wir sind nicht mehr nur Stammhirn und limbisches System sondern haben mit unserem Großhirn die Fähigkeit für Impulskontrolle und Vernunft erhalten. Wir sind mittlerweile in der Lage, uralte Überlebensmechanismen zu überdenken und wenn nötig nach und nach anders zu entscheiden.

5. Fehlende emotionale Selbstkompetenz

Wir haben oft nicht gelernt, Gefühle bewusst wahrzunehmen, auszuhalten und liebevoll zu regulieren. Dieser fehlende Selbstkontakt lässt innere Spannungen bedrohlich wirken – wir neigen dann zu schneller, aber nicht nachhaltiger Ablenkung nach außen.

 

Die gute Nachricht: Je besser wir mit unseren Gefühlen umgehen lernen und diese kennenlernen, desto weniger bedrohlich wirken innere Spannungen. Der Prozess von Selbstzuwendung wird also von Mal zu Mal leichter. 

Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.

Aber warum ist uns das nicht bewusst?

Diese Prozesse laufen weitgehend unbewusst und automatisiert ab. Unsere Psyche schützt uns aktiv vor der direkten Begegnung mit Schmerz und Verletzlichkeit. Zudem fehlen oft Vorbilder und Begleiter, die einen sicheren Raum schaffen, um diese inneren Konflikte zu erforschen.

Auch wenn ich kein strahlendes Vorbild hierfür bin, habe ich mittlerweile einiges an Erfahrung zu Selbstzuwendung sammeln dürfen. In diesem kleinen Projekt würde ich diese Erfahrungen gerne weitergeben, mit euch weiterforschen und auch an stellen begleiten, wo es noch schwierig ist. 

Die Lösung liegt in uns selbst

Solange wir nicht lernen, unsere Aufmerksamkeit mutig nach innen zu richten und ehrlich auf unsere inneren Verletzungen und unerfüllten Bedürfnisse zu schauen, werden wir uns immer wieder im Außen verlieren. Echte Heilung und nachhaltige Erfüllung kommen erst dann zustande, wenn wir aufhören, von uns selbst wegzulaufen.

Erst die liebevolle Selbstzuwendung, das Zulassen und Wahrnehmen unserer Gefühle, auch wenn sie unangenehm sind, öffnet uns den Weg in die Tiefe – und zu echtem inneren Frieden.

Wer schreibt hier?

Ich bin Oliver, Gestalttherapeut mit Herz für Tiefe, Psychotherapie und Verbundenheit. In diesem Blog teile ich Impulse für Menschen, die sich selbst wieder näher kommen wollen.

Wenn dich das Thema berührt hat...

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